Reparieren ist ein Zugang zu Fähigkeiten, die man im Leben braucht
Wir haben das Reparieren kollektiv verlernt, sagt der Autor Wolfgang Heckl. Dabei stärkt es den Willen, ist ein sinnvoller Protest und macht nebenbei auch noch glücklich. Interview: Juliane Frisse
26. Mai 2020, 10:49 Uhr
Der Vorderreifen des Fahrrads ist platt, die Tür des Sideboards schließt nicht richtig, das Bild hängt schief: Wenn man so viel zu Hause ist wie sonst nie, fällt erst recht auf, mit wie vielen defekten Dingen und Provisorien man lebt. Doch gerade jetzt kann man auch entdecken: Schon mit einer kleinen Reparatur lässt sich nicht nur vieles richten. Sie gibt einem auch das gute Gefühl, das Leben im Griff zu haben. Wolfgang M. Heckl, Autor des Buches „Die Kultur der Reparatur“, erklärt, warum wir alle mehr selbst reparieren sollten und wie auch ungeschickte Menschen einen Zugang dazu finden.
ZEITmagazin ONLINE: Viele Menschen haben jetzt damit angefangen, bei sich zu Hause Dinge zu reparieren. Beobachten Sie seit Corona bei sich auch eine gestiegene Reparaturlust?
Wolfgang M. Heckl: Bei mir selbst hat die Reparaturlust nie nachgelassen, seit ich als Kind im Werkzeugkeller meines Vaters das Glücksgefühl kennengelernt habe, das sich einstellt, wenn man etwas wieder zum Funktionieren bringt. Aber dass viele im Zuge der Rückbesinnung auf die eigenen vier Wände das Reparieren für sich entdecken, das beobachte ich auch. Das Interesse hat allerdings schon vor Corona zugenommen, mit Greta und der Klimabewegung: Denn Reparieren ist auch ein Protest gegen die Wegwerfgesellschaft, die so viele Ressourcen verbraucht, dass wir anderthalb Erden bräuchten.
ZEITmagazin ONLINE: Früher wurde mehr repariert, heißt es oft. Ging es im Werkzeugkeller Ihres Vaters auch um Nachhaltigkeit?
Heckl: Damals war noch nicht die Rede von Nachhaltigkeit oder Suffizienz. Damals hieß es einfach: Wenn etwas kaputt geht, muss man schauen, wie man es reparieren kann. In der Nachkriegszeit war das ganz normal und finanziell ja oft auch notwendig. Erst in den Sechziger-, Siebzigerjahren haben wir als Gesellschaft das Reparieren verlernt.
ZEITmagazin ONLINE: Wie sind Sie zum Reparateur aus Leidenschaft geworden?
Heckl: Indem ich ein Radio kaputtgemacht habe.
ZEITmagazin ONLINE: Was ist passiert?
Heckl: Als Kind wollte ich wissen: Wie kann in einem kleinen Radio jemand drinsitzen und dort heraussprechen? Also nahm ich mir vor, unser einziges Radio zu Hause auseinanderzunehmen. Als meine Eltern nicht da waren, habe ich es zerlegt. Ich habe dann niemanden da drinnen gefunden. Das Radio ließ sich allerdings auch nicht mehr zusammenbauen, ich rechnete mit einem Donnerwetter. Doch als meine Eltern wiederkamen, haben sie milde reagiert. Sie haben sich wohl gedacht: Aus dem Jungen wird mal was, wenn er so genau wissen will, wie die Dinge funktionieren.
ZEITmagazin ONLINE: Sie waren also schon immer ein Bastler.
Heckl: Ich glaube, dass Kinder eine natürliche Neugier besitzen, die Welt zu verstehen, die Dinge zu zerlegen und sie so zu begreifen. Diese Neugier wird leider oft unterdrückt oder nicht gefördert. Etwa, weil es in der Schule keinen Werk- oder Haushaltsunterricht gibt. Es geht beim Reparieren aber nicht in erster Linie um technische Fähigkeiten, die einer vielleicht etwas mehr und der andere etwas weniger hat. Reparatur ist eine Haltung zur Welt.
ZEITmagazin ONLINE: Wie können Erwachsene, die von sich sagen würden, dass sie zwei linke Hände haben, diese Haltung wieder kultivieren?
Heckl: Eine Reparatur fängt schon bei der Tasse an, die Sie nicht wegwerfen, nur weil der Henkel abgebrochen ist. Wenn Sie den wieder ankleben, haben Sie etwas repariert. Das kann jeder.
ZEITmagazin ONLINE: Warum sollte man überhaupt selbst reparieren? Unsere ganze moderne Gesellschaft basiert auf Arbeitsteilung, es gibt Profis, die das schneller und besser können.
Heckl: Weil Reparieren glücklich macht! Beim Reparieren meistern Sie eine Aufgabe, ganz autark. So erleben Sie Selbstwirksamkeit: Ich habe das geschafft – das ist doch jedes Mal eine Freude! Und wenn Sie für andere Menschen etwas reparieren, machen Sie noch jemanden glücklich! Meine Frau legt mir fast jeden Tag einen Zettel mit einer Reparaturaufgabe hin, ich mache das umgekehrt genauso. Und ich sage auch immer: Reparieren ist ein niedrigschwelliger Zugang zu Fähigkeiten, die man im Leben braucht.
ZEITmagazin ONLINE: Welche Fähigkeiten sind das?
Heckl: Angenommen, Ihre Lampe brennt nicht mehr: Dann entwickeln Sie eine Theorie, warum das so ist, und einen Plan, wie Sie das Problem beheben. Sie denken sich zum Beispiel: Die Birne ist durchgebrannt, die muss wohl ausgetauscht werden. Dann drehen Sie die Birne raus und stellen fest, dass sie aber noch intakt ist. Ihre Theorie wurde also falsifiziert, Sie müssen noch mal nachdenken, aus welchem anderen Grund die Lampe nicht funktionieren könnte. Und so lernen Sie analytisches Vorgehen. Sie lernen, dranzubleiben und sich durchzubeißen. Das sind wichtige kognitive und emotionale Kompetenzen.
ZEITmagazin ONLINE: Gibt es eine Reparatur, auf die Sie besonders stolz sind?
Heckl: Als Student bin ich in die Wohnung meiner heutigen Frau, damals noch Freundin, eingezogen. Bei der Klospülung lief das Wasser. Meine Freundin bat mich: Kannst du dir das mal anschauen, da muss man sicher die Dichtung des Hebers erneuern. Ich dachte aber: Na, so einfach geht das nicht! Ich will jetzt erst mal diese Spülung verstehen. Ich war dann zweieinhalb Tage damit beschäftigt, diese Toilette zu zerlegen, das archimedische Prinzip nachzuvollziehen, also zu verstehen, wie eine Wasserspültoilette funktioniert. Ich habe mich also schwer reingehängt, um die Ursache für diese laufende Toilette zu finden: Ist sie verkalkt? Oder ist etwas nicht richtig eingestellt?
ZEITmagazin ONLINE: Und was war kaputt?
Heckl: Natürlich die Dichtung, wie meine Freundin es gleich vermutet hatte. Aber dafür hatte ich verstanden, was für ein Wunderwerk so eine Wasserspültoilette ist. Wer repariert, entwickelt eine Hochachtung vor dem Design der Dinge.
ZEITmagazin ONLINE: Was ist ein gutes Reparaturprojekt für Einsteiger und Anfängerinnen?
Heckl: Das, was gerade bei Ihnen zu Hause repariert werden muss. Irgendwas gibt es ja immer zu tun. Oft ist es auch nicht schwierig: die Tischplatte einölen, Rost am Fahrrad entfernen, einen losen Knopf annähen. Es gibt so viele einfache Dinge, die man mit einem liebevollen Auge als Reparatur bezeichnen kann.
ZEITmagazin ONLINE: Was, wenn es komplexer ist, und man sich von der Reparatur überfordert fühlt?
Heckl: Ich empfehle immer: Als Erstes einfach mal selbst probieren. Wobei Sie sich bei elektrischen Reparaturen zurückhalten sollten als Einsteigerin. Bei allem ab 40 Volt lassen Sie besser die Hände davon: Das kann einen Strom durch Ihren Körper jagen, der gefährlich werden kann. Wenn Sie eine Reparatur allein nicht hinbekommen, fragen Sie die Familienangehörigen, dann die Nachbarn oder die Freunde. Und wenn es für alle zu komplex ist, dann gehen Sie in ein Repair-Café. Dort bekommen Sie Hilfe beim Reparieren. Wenn man Ihnen auch dort nicht helfen kann, können Sie immer noch einen Handwerker konsultieren.
ZEITmagazin ONLINE: Wie findet man am besten heraus, wie man etwas repariert?
Heckl: Im Repair-Café haben Sie zusätzlich zur Hilfe auch noch den persönlichen Austausch, aber ansonsten sind auch Tutorials im Internet oft wunderbar! Auf der Plattform iFixit zum Beispiel gibt es ganz viele Reparaturanleitungen.
ZEITmagazin ONLINE: Wie wichtig ist gutes Werkzeug?
Heckl: Jedes Werkzeug ist besser als kein Werkzeug. Wen man es sich leisten kann, ist langfristig das teure Werkzeug oft das günstigste, weil die billigeren Sachen in der Regel schneller kaputtgehen.
ZEITmagazin ONLINE: Tut man sich mit Reparieren denn wirklich immer einen Gefallen? Ist es nicht manchmal auch einfach Zeit, sich von einem Gegenstand zu verabschieden?
Heckl: Ja, es gibt diesen Zeitpunkt. Aber in unserer Gesellschaft meinen wir in 99 Prozent der Fälle viel zu früh, dass er erreicht sei. Und wenn es tatsächlich Zeit ist, sich von einem Gegenstand zu verabschieden, hebe ich mir immer die einzelnen Teile auf, die man noch gebrauchen kann.
ZEITmagazin ONLINE: Ich hatte mal ein altes Hollandrad, das ich sehr geliebt habe. Über die Jahre habe ich so viel Geld in Ersatzteile und Reparaturen gesteckt, davon hätte ich mir auch zwei neue Fahrräder kaufen können.
Heckl: Es geht aber ja auch nicht immer ums Geld, sondern auch um die Liebe zu den Dingen. Und als Gesellschaft können wir es uns nicht leisten, weiterhin so zu tun, als seien unsere Ressourcen unendlich. Ich habe Socken, die sind noch von der Bundeswehr. Kleinere Löcher flicke ich, um größere kümmert sich meine Frau. Und wenn es gar nicht mehr geht, dann benutzen wir sie als Lumpen, die braucht man doch immer.
ZEITmagazin ONLINE: Manche Hersteller scheinen einen unbedingt vom Reparieren abhalten zu wollen und drohen zum Beispiel mit dem Verlust der Garantie, wenn man es trotzdem versucht. Ärgert Sie das?
Heckl: Na, selbstverständlich ärgert mich das. Deshalb fordert die Repair-Bewegung ja auch schon lange ein Recht auf Reparatur. Und inzwischen tut sich auch politisch etwas: Mit der Ökodesign-Richtlinie der EU müssen Hersteller ab 2021 zumindest für einige Jahre Ersatzteile bevorraten. Elektrogeräte müssen so gebaut werden, dass sie reparaturfähig sind, Reparaturanleitungen müssen verfügbar sein. Das ist ein Fortschritt, der natürlich auch der Reparaturbewegung zu verdanken ist.
ZEITmagazin ONLINE: Ihr Buch Die Kultur der Reparatur, in dem Sie auch die damals noch junge Repair-Bewegung beschreiben, ist vor sieben Jahren erschienen. Wie hat sie sich in den vergangenen Jahren entwickelt?
Heckl: Die Repair-Bewegung wird größer und größer. Das Nachhaltigkeitsbewusstsein wächst. Als ich das Buch geschrieben habe, gab es in Deutschland etwa 80 Repair-Cafés. Heute sind es ungefähr 1.000. Die Menschen begreifen, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Und wenn man es sehr philosophisch ausdrücken will, könnte man sagen: Wir besinnen uns zurück auf das natürliche Prinzip des Lebens. Es geht nicht ohne Reparatur. In jedem Moment muss ein Enzym eine Reparatur in unserem Körper vornehmen, sonst könnten wir keine Sekunde überleben. Ohne Reparaturen wäre vor 3,4 Milliarden Jahren kein Leben auf der Erde entstanden und könnte auch niemals aufrechterhalten werden.